Genossenschaftliche Werte
„Der Kern langfristigen Erfolgs“
Die traditionellen genossenschaftliche Werte sind zeitlos - und auch im 21. Jahrhundert von großer Bedeutung. Warum das so ist, erklärt der Wissenschaftler Thorn Kring von der Steinbeis-Hochschule Berlin im Interview.
Professor Thorn Kring
Herr Professor Kring, die Grundsätze des Genossenschaftswesens – Selbsthilfe, Selbstverwaltung und Selbstverantwortung – stammen aus dem 19. Jahrhundert. Sind sie heute noch aktuell?
Thorn Kring: Auch wenn diese Werte nicht zum Standardvokabular der Wirtschaftspresse oder junger Mitarbeiter gehören, haben diese Grundsätze inhaltlich nicht an Relevanz und Aktualität verloren. Viele Produkte und Dienstleistungen werden heute darauf ausgerichtet, einen Beitrag zur individuellen Selbstentfaltung zu leisten – sie leisten mithin Hilfe zur Selbsthilfe. Organisationsformen mit einem hohen Grad an Selbstorganisation durchdringen ehemals hierarchisch geprägte Branchen mehr und mehr. Wirft man einen Blick auf die innovative Gründerszene in Deutschland, so streben nicht nur FinTechs danach, selbstverantwortlich kreative Geschäftsmodelle in den Markt zu bringen. Genossenschaftliche Grundsätze scheinen generell en vogue zu sein.
Aus den genossenschaftlichen Grundsätzen hat sich in den vergangenen 160 Jahren ein umfangreicher Wertekanon entwickelt. Welche Prinzipien zählen Sie zu den Kernelementen?
Kring: Ich orientiere mich dabei gerne an dem Wertekanon, wie er im Jahr der Genossenschaften 2012 durch die Vereinten Nationen publiziert wurde. Im Zentrum steht dort die Bereitschaft, sich in einer Kooperation gemeinsam zum Nutzen der Mitglieder und darüber hinaus zum Wohle der Gesellschaft einzubringen. Damit sind für mich neben den bereits angeführten Grundprinzipien und dem Zweck der Mitgliederförderung Werte wie Dienstbereitschaft, Kooperation und gesellschaftliche Verantwortung zentral.
Die wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen Mitte des 19. Jahrhunderts waren ganz andere wie heute. Inwiefern haben sich auch die genossenschaftlichen Wertevorstellungen in den vergangenen 160 Jahren gewandelt?
Kring: Ich glaube, dass sich die Werte substanziell nicht grundsätzlich verändert haben. Jede Generation steht allerdings vor der immer neuen Herausforderung, die Werte in den Kontext der jeweiligen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu übersetzen. Während die Gründerväter der genossenschaftlichen Idee die Ziele verfolgten, Armut zu überwinden, Wucher zu umgehen und Teilhabe an einem Wirtschaftssystem zu ermöglichen, sind Genossenschaften heute gefordert, moderne Knappheiten zu identifizieren und Lösungen zu schaffen. Genossenschaftsneugründungen zur Sicherung der regionalen Daseinsvorsorge im Gesundheitsbereich, der Bildung oder der Energiegewinnung können als Beispiele genannt werden. Etablierte Genossenschaften wie die Volksbanken und Raiffeisenbanken stehen vor der Aufgabe, die aktuellen Bedürfnisse ihrer Mitglieder zu erkennen und ihr Leistungsportfolio innovativ darauf anzupassen. In dem einen Fall kann das die Zusage sein, Mitglieder durch Vorsorgeberatung vor der Altersarmut zu bewahren, für die anderen ist es die Entwicklung einer Banking App, die eine innovative Antwort auf neue digitale Bedürfnisse der Mitglieder liefert.
Der Wettbewerbsdruck auf Genossenschaften nimmt stetig zu, nicht nur in der Finanzwirtschaft. Sind genossenschaftliche Prinzipien in dieser Situation eher hinderlich – oder sogar von Vorteil?
Kring: Authentische Werteorientierung ist aus meiner Sicht kein Hindernis im Wettbewerb, sondern der Kern langfristigen Erfolgs. Missbrauch von Vertrauen der Kunden mag kurzfristig wirtschaftliche Erfolge generieren. Auf lange Sicht aber trägt ein solches werteentleertes Verhalten nicht – nicht in Banken, nicht in anderen Branchen. Wenn sich Werte wie Dienstbereitschaft, Kooperation oder die Übernahme von Verantwortung zu leeren Worthülsen entwickeln oder als Marketinginstrument missbraucht werden, wird dies früher oder später vom Markt enttarnt und bestraft.
Das gesamte Interview mit Professor Kring ist in der April-Ausgabe von „Profil - das bayerische Genossenschaftsblatt“ erschienen.